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Liebe Lesende,

zum Start ins neue Jahr gibt es was zum schmökern:

Bereits in meinem Artikel „Schmerzen“ habe ich eine philosophische wie feministische Problemstellung gestreift: Dabei ging es darum, inwiefern das „Nicht-um-den-Körper-Kümmern“ bedingt ist durch die abendländische Denktradition, in der Körper und Geist getrennt betrachtet werden. Mit dieser Trennung eng verknüpft ist die Idee einer dichotomen und hierarchisch geordneten Zweigeschlechtlichkeit. Damit ist gemeint, dass wir Geschlecht alltagsweltlich nur als Mann oder Frau denken können und die beiden Geschlechter durch die vermeintliche Überlegenheit des Mannes geprägt ist. Nun werden Anti-Feminist_innen aufschreien und sagen, dass doch die Mädchen aufholen würden und so weiter. An der folgenden Buchbesprechung wird allerdings deutlich werden, wie insbesondere in der symbolischen und realen Beschäftigung mit den jeweiligen Genitalien geschlechtsspezifische Auf- und Abwertungsmechanismen verbunden sind.
Mithu M. Sanyals Buch „Vulva“ von 2009 ist für Lichen-Sclerosus-Patientinnen ein äußerst lesenswertes Buch. Denn geht man vor dem oben aufgeführten Hintergrund davon aus, dass mit diesem hierarchischen Denken von Zweigeschlechtlichkeit auch psychische Repräsentationen verbunden sind, lässt das verstehen, warum viele „gesunde“ Frauen, aber gerade auch LS-Patientinnen kein einfaches Verhältnis zu ihrer Vulva haben. Allerdings ist dies nur am Rande bedeutend für Sanyals erhellende Erörterung. Denn im Zentrum steht eine andere Geschichte des weiblichen Geschlechts. Sanyal zeigt in ihrer Kulturgeschichte der Vulva, wie diese Menschen (und Göttinnen) zum Lachen bringt, eine „weibliche“ Macht in sich birgt und warum es sich lohnt androzentrisch geschriebene Historie zu hinterfragen.
Da ich nun keine literarische oder wissenschaftliche Rezension schreibe, sondern die für LS-Patient_innen interessanten Stellen in den Fokus nehme, muss nachsichtig damit umgegangen werden, dass einige andere Aspekte des Buches vernachlässigt werden.
Bereits im ersten Kapitel „Shaming and Naming“ wird deutlich, dass die Vulva durch Nichtbeachtung, Verleugnung und Unterordnung unter den Begriff Vagina (oder äquivalente Begriffe für die Vagina) verschwand. Dabei nimmt Sanyal ebenso Bezug auf mittelalterliche wie gegenwärtige Diskurse. Den beschriebenen sprachlichen Prozessen ist vor allem gemein, dass sie die weiblichen Genitalien praktisch auf ein Loch reduzieren. Provokativ setzt Sanyal dem eine sprachhistorische Analyse des englischen Wortes ‚cunt‘ (was nicht nur mit Vulva sondern auch mit ‚Fotze‘ übersetzt werden kann) entgegen: Das englische alte Wort ist etymologisch mit queen (Königin), kin (Sippe) und country ((Mutter-)Land) verwandt (S. 13). Heute werden die Begriffe cunt bzw. Fotze als vulgäre und abwertende Worte benutzt. Dies ist kein Zufall, wie Sanyal herausarbeitet, sondern die Folge einer Neubenennung und Reduktion des weiblichen körperlichen Geschlechts auf Vagina und Uterus. Insbesondere die christliche Vorstellung, die weiblichen Geschlechtsorgane seien primär für die Fortpflanzung zuständig, förderten diesen selektiven Blick in der Medizin.
Dabei erläutern Sanyals historische Darstellungen, wie es zu modernen Vorstellungen von Geschlecht kam, am schockierensten fand ich beim Lesen allerdings die bis heute anhaltenden Folgen. Davon ausgehend, um eine Vorstellung vom eigenen Körper zu erlangen, müsse dieser sowohl erfühlt als auch differenziert benannt werden können, sind vor allem die Studien aufsehenserregend, die mangelnde anatomische Kenntnisse bei Eltern kleiner Mädchen nachweisen. Sanyal bezieht sich dabei u.a. auf Studien von der Ärztin Harriet Lerner, die aufzeigte, dass in der Medizin das weibliche Geschlecht mit der Vagina fehlbenannt wurde. Diese Studien wurden in der medizinischen Fachwelt ignoriert.  Dies ist kein Problem der Ärzteschaft, sondern deckt sich mit der Alltagssprache von Eltern und anderen Erziehenden, wie Lerner ebenfalls zeigt (S. 24). So lernen Mädchen entweder gar keine Bezeichnung für ‚da unten‘ oder ‚zwischen den Beinen‘ (im Gegensatz zu den Jungen, die ihren Pimmel klar benennen können), kennen nur die ‚Scheide‘ oder lernen verniedlichende Begriffe, wie z.B. ‚Mumu‘. Der Begriff ‚Vulva‘ ist vielen, auch gebildeten Eltern gar nicht bekannt.

Sanyals kulturgeschichtliche Analyse bleibt aber nicht bei dieser Diagnose eines unsichtbar gemachten Geschlechts stehen, sondern setzt dieser (zumindest in „der“ westlichen Welt) dominierenden (Un-)Sicht etwas entgegen: Sie erzählt von verlorenen und verdrängten Vulva-Schätzen, die Mut machen, auch der eigenen Vulva mehr Anerkennung zukommen zu lassen. Ich führe nun nur kurz ein paar Beispiele auf, um dann abschließend noch einmal Bezug auf moderne Formen des Widerstands gegen die Verdrängung der Vulva zurück zu kommen.

Zunächst zur Bedeutung der Vulva jenseits androzentrischer Lesarten: So finden sich in der anatolischen wie griechischen Mythologie die Figuren der Iambe bzw. Baubo (S. 28 ff.), die Demeter die Lebenslust durch das Zeigen ihrer Vulva zurückgibt. In Ägypten gab es Rituale bei denen die Frauen ihre Vulva zeigten. In Japan gibt es eine Legende, in der eine Göttin durch das Zeigen der Vulva Dämonen zum Lachen bringt und sie so vertreibt (S. 34). Allerdings können in der Geschichte des Christentums immer noch vulvaverehrende Vorstellungen nachgewiesen werden, wie beispielsweise an Kirchen angebrachte Skultpuren „vulvaweisender Nonnen“ (S. 56 f.) zeigen. Besonders spannend sind Sanyals Erläuterungen davon, wie männlich dominierte religiöse Akteure und die westlichen Kolonialmächte solche Erscheinungen in der christlichen wie u.a. indisch/hinduistischen Mythologie mundtot machten bzw. es versuchten. Zusammengefasst schwingt in den Verdrängungserscheinungen immer eine Angst vor den unglaublichen Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts mit. Also die Angst vor ihrer Anziehungskraft und der Kraft Leben hervorzubringen.

Nichtzuletzt drückt sich dies auch in der modernen Teilung von produktiver (also mehrwertschöpfender) Arbeit und reproduktiver (also Arbeitskraft regenerierender Haus-/Care-)Arbeit aus. Aber dies ist eine andere Geschichte.

Kommen wir zurück zu Sanyals alternativen Erzählungen der Vulva. Im 20. Jahrhundert kann zwar von einer Übermacht vulvaverdrängender Vorstellungen gesprochen werden, aber in Phänomenen, wie dem Nackttanz um die 1920er Jahre herum (Anita Berber, Valeska Gert, die Kunst und keinen Striptease, wie er heute verstanden wird, machten, S. 96 ff.) oder dem Burlesque (S. 104 ff.), wird deutlich, dass Frauen ihren Kröper zeigten, ohne sich zum Objekt zu machen oder ihre Vulva zu verstecken.

Abschließend mache ich einen Sprung zu aktuellen Formen einer sichtbaren Vulva. Diese ist vor allem in feministisch inspirierten Kunstprojekten zu beobachten. Dabei ist insbesondere die Performance-Künstlerin und Pornostar Annie Sprinkle zu nennen, die sich einer sex-positiven Perspektive verschrieben hat. In Sprinkles Performance „Public Cervix Announcement“ lädt diese Besucher_innen ein, mit Hilfe eines Spekulums ihren Muttermund zu bewundern (S. 175 ff.). Die Betrachtung der weiblichen Genitalien und das regelrechte „Reinschauen“ in den weiblichen Körper bringt die Museumsbesuchenden aus der Fassung. An Sanyals Darstellung  dieser Performance gefällt mir vor allem, wie sie durch die Verbindung der Betrachtung der weiblichen Genitalien mit der Person Annie Sprinkle aus einem Objekt (der Betrachtung) ein Subjekt macht.

Sanyal, Sprinkle und alle anderen Personen wie Mythen, die in diesem Buch auftauchen machen etwas, was ich auch für ein Leben mit Lichen Sclerosus erstrebenswert halte: Sie schreiben die Vulva positiv in die Geschichte ein. Mir hat das Buch trotz meiner Kenntnisse feministischer Literatur und historischer Analysen der medizinischen Geschichtsschreibung geholfen, zu verstehen, welche sozialen und historisch-gewachsenen Verleugnungsprozesse auch mein eigenes Verhältnis zu meiner Vulva geprägt haben.

Unsere Krankheit haben wir LS-Patient_innen nicht aufgrund „diskursiver Prozesse“, aber der historisch wie gesellschaftlich geprägte Blick auf oder eben das Wegschauen von der Vulva kann uns behindern, einen Weg zu finden, mit unserer Vulva und ihrer Erkrankung in Einklang zu kommen. Sanyals Buch ist ein Anfang neue Möglichkeiten zu erobern.